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Zwei Jahre nach dem IGLU-Schock: Warum Deutschlands Kinder immer schlechter lesen – Forscher ermitteln Ursachen

24.07.2025
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© Agentur für Bildungsjournalismus

Als im Mai 2023 die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) veröffentlicht wurden, war die Aufregung groß: Jeder vierte Viertklässler in Deutschland erreichte nicht das Mindestniveau im Textverständnis. Zwei Jahre später liegt nun eine vertiefende Analyse des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund vor – und die zeichnet ein noch düstereres Bild: Ja, Corona war ein Treiber. Aber entscheidend in Deutschland sind die strukturellen Probleme – vor allem außerhalb der Schulen.

Die neue IFS-Studie, durchgeführt von Dr. Ulrich Ludewig, Dr. Rolf Strietholt und Prof. Dr. Nele McElvany, beleuchtet erstmals im Detail die Ursachen für den dramatischen Rückgang der Lesekompetenz in Europa. Grundlage ist ein Vergleich der IGLU-Daten aus den Jahren 2016 und 2021 für 18 europäische Länder und Regionen.

Das zentrale Ergebnis: Schulschließungen während der Pandemie hatten einen messbaren Effekt auf den Leistungsabfall – aber eben nur zum Teil. Die Studie hat erstmals ermittelt, welche Rolle Verschlechterungen bei den außerschulischen Lernbedingungen spielen: Europaweit kann ein Viertel des Leistungsrückgangs darauf zurückgeführt werden (drei von elf Punkten). In Deutschland hingegen liegt der Anteil der Leistungsverschlechterung, der auf verschlechterte außerschulische Lernbedingungen zurückgeht, hingegen bei mehr als der Hälfte – sieben von 13 Punkten.

„Unsere Studie leistet einen wichtigen Beitrag dazu, den Rückgang der Lesekompetenz, den wir seit Jahren in Deutschland und Europa beobachten, besser zu verstehen“, erklärt Dr. Ludewig. Die Dauer der Schulschließungen habe zwar eine Rolle gespielt – sie reichte in Europa von null Tagen in Schweden bis zu 142 Tagen in Slowenien – doch „die Schulschließungen allein reichen nicht aus, um den Rückgang zu erklären“, ergänzt Nele McElvany.

Die Studie zeigt auf, welche Entwicklungen im Elternhaus und im Alltag der Kinder das Lesenlernen zunehmend erschweren. Dazu zählen:

- Sozioökonomische Belastungen: „Viele Familien haben begrenzte finanzielle Mittel, was die Lernmöglichkeiten zuhause einschränkt“, so die Forschenden.

- Zunehmende Mehrsprachigkeit: Immer mehr Kinder sprechen zu Hause eine andere Sprache als im Unterricht. Das verringert den Kontakt zur Unterrichtssprache – ein zentrales Hindernis für den Leseerwerb.

- Digitalisierung im Alltag: Eltern lesen weniger – sowohl für sich als auch mit ihren Kindern. Kinder verlieren dadurch wichtige Vorbilder.

„Diese Entwicklungen erschweren den erfolgreichen Leseerwerb auch unabhängig von Schulschließungen“, betont McElvany. Besonders problematisch werde es, wenn gleichzeitig der Präsenzunterricht wegfällt – dann verschärften sich die sozialen Unterschiede dramatisch.

Die neuen Befunde passen ins Gesamtbild: Die IGLU-Haupterhebung 2021 hatte gezeigt, dass Deutschlands Viertklässler im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld landen – mit sinkender Tendenz. Der Punktwert sank von 548 (2006) auf 524 (2021). Der Anteil der Kinder mit sehr guten Leseleistungen fiel in diesem Zeitraum von 47 auf 39 Prozent. Gleichzeitig wuchs der Anteil der Kinder, die das Mindestniveau nicht erreichen, von 17 auf 25 Prozent.

Prof. McElvany stellte schon damals klar: «Die pandemiebedingten Beeinträchtigungen und die sich verändernde Schülerschaft erklären nur einen Teil dieses Leistungsabfalls. Es muss klar festgehalten werden, dass der Trend absinkender Schülerleistungen bereits seit 2006 besteht und die problematische Entwicklung in unserem Bildungssystem in den letzten Jahren durch diese Aspekte nur verstärkt wurde».

Der altbekannte Befund aus anderen Studien wurde auch in dieser Untersuchung bestätigt: Kinder aus privilegierten Elternhäusern haben größere Chancen auf Bildungserfolg als andere Kinder. Im 20-Jahre-Trend zeige sich weder eine Verstärkung noch Reduzierung dieses Problems. Es habe sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit «praktisch nichts verändert», so das damalige Fazit der Wissenschaftler.

„Die Ergebnisse sind ein Armutszeugnis für das reiche Deutschland“

Die Reaktion aus Reihen der Bildungsgewerkschaften auf die aktuelle Sonderauswertung der IGLU-Daten ließ nicht lange auf sich warten. Der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand, spricht von einem „schwarzen Tag für die Bildungsgerechtigkeit“. Er sagt: „Die Ergebnisse sind ein Armutszeugnis für das reiche Deutschland.“ Besonders besorgniserregend sei der hohe Anteil der Ursachen, die außerhalb der Schule liegen.

Hierzu Brand: „Die Lebenswirklichkeit vieler Familien hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert: Begrenzte finanzielle Möglichkeiten, zunehmende Mehrsprachigkeit zu Hause und ein Rückgang gemeinsamer lesebezogener Aktivitäten schwächen die Unterstützung, die das Elternhaus bieten kann. Vielfach fehlen die Ressourcen und die Zeit, um insbesondere Kindern mit sprachlichem Förderbedarf den notwendigen Rückhalt beim Lesenlernen zu geben. Insbesondere diese Kinder laufen Gefahr, nachhaltig abgehängt zu werden, wenn sie auf ihre eigenen Voraussetzungen oder das Engagement der Eltern angewiesen bleiben.“

Für den VBE sei klar, so Brand: „Die Bildungsteilhabe darf nicht von den individuellen Möglichkeiten des Elternhauses abhängen! Kinder mit sprachlichem Aufholbedarf benötigen gezielte und individuelle Förderung. Dafür braucht es aus unserer Sicht verbindliche und flächendeckende Sprachförderangebote, mehr multiprofessionelle Teams an Schulen und zusätzliche sozialpädagogische Unterstützungsstrukturen. Darüber hinaus braucht es einen Paradigmenwechsel im Bildungsverständnis, denn Bildung ist nicht nur Aufgabe der Schule, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Politik ist gut beraten, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie Eltern in der direkten Erziehungsarbeit unterstützen kann.“

Weiterführende Links:
https://www.news4teachers.de/2025/07/zwei-jahre-nach-dem-iglu-schock-warum-deutschlands-kinder-immer-schlechter-lesen-forscher-ermitteln-ursachen/


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